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Haus des Jugendrechts - Entstehung
„Damit hat ein bundesweit einzigartiges Projekt nach über zwei Jahren einer aufregenden Ideenfindung und Konzeptionierung seine Gestalt angenommen. Neue Wege mussten begangen werden, Schatten mussten übersprungen werden, ein finanzieller Kraftakt war vonnöten“
Damaliger Polizeipräsident Dr. Martin Schairer, Projektleiter, zur Eröffnung des Haus des Jugendrechts am 7. Juni 1999.
Die Vision
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1996 erreichte die Diskussion um steigende Tatverdächtigenzahlen im Gewaltbereich und das immer niedriger werdende Einstiegsalter in die Kinder- und Jugenddelinquenz einen neuen Höhepunkt. Der Ruf nach härteren Strafen, Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters und schnellen Sanktionen wurde immer lauter.
Unbefriedigend war zudem, dass die staatlichen Reaktionen vielfach nicht abgestimmt waren und nacheinander erfolgten. Die Zeitdauer zwischen Straftat und Sanktionierung war oft viel zu lang, junge Täter warteten monatelang auf eine Reaktion oder die erste Verhandlung bei Gericht.
1997 war eine Idee des damaligen Präsidenten der Landespolizeidirektion Stuttgart II die Initialzündung, mit der er die Vision einer Stuttgarter Antwort der Öffentlichkeit vorstellte. Die kritische Auseinandersetzung mit den Verfahrensabläufen bei den beteiligten Institutionen – Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendamt und Gericht – erforderte eine Phase der gegenseitigen Annäherung.
Politische und institutionelle Bedenken mussten ausgeräumt werden.
Schließlich stimmten der Oberbürgermeister sowie die Leiter von Staatsanwaltschaft und Gericht zu. Zunächst als Haus der Gerechtigkeit vorgestellt, schlug Stuttgarts damaliger Oberbürgermeister für diese Vision den Namen Haus des Jugendrechts
vor. Die Planung für das bundesweit einmalige Modellprojekt konnte beginnen.
Die Planungsphase
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In einer Planungsphase wurden von November 1997 bis Ende 1998 in den vier beteiligten Institutionen eigenverantwortlich neue Aufbau- und Ablaufstrukturen in Teilprojekten erarbeitet und in einem Gesamtprojektbericht festgelegt.
Selbstverständlich waren für die Institutionen die jeweils gültigen gesetzlichen Rahmen und die datenschutzrechtlichen Aspekte Grundlage der Planungsarbeit.
Gemeinsam vereinbarte Ziele liegen der Konzeption zu Grunde:
■ Schnelles Handeln bei normwidrigem Verhalten durch Beschleunigung staatlicher und kommunaler Reaktion auf Straftaten junger Menschen;
■ Optimierung der behördenübergreifenden Zusammenarbeit;
■ langfristige Reduzierung der Jugendkriminalität.
Die Philosophie, schon an der Schwelle zur Delinquenz gemeinsam zum Wohle junger Menschen und zum Wohle der Gesellschaft zu reagieren, wurde dem Haus des Jugendrechts mit auf den Weg gegeben.Der gesamte Verfahrensablauf zwischen den Institutionen musste neu gestaltet und abgestimmt werden. Dazu waren auch die bisherigen Zuständigkeiten neu zu überdenken.
Auf jugendliches Fehlverhalten sollte besser geantwortet und vor allem nicht nur nach der Tat wirkungsvoll reagiert, sondern auch Hilfe angeboten werden.
Um optimal zusammenarbeiten zu können, sollten Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendamt in unmittelbarem Kontakt miteinander, unter einem Dach, und unter direkter Anbindung des Gerichtes, den Verfahrensablauf neu organisieren und praktizieren.
Das Wohnortprinzip
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Wesentlich für die zukünftige Zusammenarbeit war die Angleichung der sachlichen und örtlichen Zuständigkeiten der Institutionen.
Dazu musste die Organisationsstruktur der Polizei an die der Justiz und des Jugendamtes angeglichen werden.Drei einschneidende Veränderungen waren notwendig:
- Die Umstellung vom Tatort- auf das Wohnortprinzip;
- die Ausweitung der Zuständigkeit in der polizeilichen Jugendsachbearbeitung, die bisher bei der Vollendung des 18. Lebensjahres endete, auf alle Personen bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres;
- die Zuständigkeit für einen Großteil aller Straftaten, von der einfachen bis zur schweren Kriminalität.
Damit wurde die zentrale Grundlage für eine neu ausgerichtete und tragfähige Zusammenarbeit geschaffen.
Um eine direkte Übernahme von allen aktuell angetroffenen kindlichen und jugendlichen Tätern, vor allem aus Ladendiebstählen, zu gewährleisten, wurde die Arbeitszeit der Polizei im Haus des Jugendrechts an die üblichen Ladenschlusszeiten – wochentags bis 20.00 Uhr – angeglichen.
Unter einem Dach
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Als geeignete Stadtbezirke für das Modellprojekt wurden Bad Cannstatt und Münster mit ca. 74.000 Einwohnern, darunter ca. 14.000 unter 21 Jahren, ausgewählt. (Im Vergleich: die Stadt Stuttgart hatte 2012 ca. 580.000 Einwohner, davon ca. 108.000 unter 21 Jahren).
Widerstände aus der Bevölkerung waren zu überwinden. Sie vermuteten in ihrem Stadtteil die Unterbringung von Schwerkriminellen und gründeten eine Bürgerinitiative. Eine Lokalzeitung titelte „Angst vor Haus des Jugendrechts“.
Die Auswahl eines geeigneten Gebäudes für Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendamt gestaltete sich aufwändig. Es musste ein Gebäude gefunden werden, das den Raumanforderungen der Institutionen entsprach.Ein städtisches Bürogebäude mitten im Bezirk Bad Cannstatt erwies sich als passend. Die notwendigen, sicherheitsbedingten Umbaumaßnahmen wurden vorgenommen.
Die Jugendhilfe im Strafverfahren (Jugendgerichtshilfe) des Jugendamtes war anfangs in einem Gebäude nebenan untergebracht. Den jungen Menschen und ihren Eltern sollte optisch deutlich gemacht werden, dass sie von den Strafverfolgungsbehörden zur Jugendhilfe im Strafverfahren kommen.
Die befürchteten Irritationen blieben aus.
Die Jugendhilfe im Strafverfahren ist nun mit Polizei und Staatsanwaltschaft im gleichen Gebäude untergebracht. Alle drei Behörden benutzen einen gemeinsamen Hauseingang und sind durch eigene Zugangsbereiche zu ihren Diensträumen baulich getrennt.
Das Gericht liegt mitten in der Innenstadt von Bad Cannstatt und blieb aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit und der Neutralität im Verfahren an seinem bisherigen Amtssitz in unmittelbarer Nähe.
Vor dem Einzug in die neuen Räume kamen alle zukünftigen Mitarbeiter im Haus des Jugendrechts zum gegenseitigen Kennenlernen und zum Einstimmen auf die gemeinsame Aufgabe im Rahmen einer Auftaktveranstaltung zusammen.
Eine wissenschaftliche Begleitung wurde vorgesehen und konzipiert. Ein abschließender Evaluationsbericht sollte nach den festgelegten drei Modellprojektjahren Aufschluss über Erfolg oder Misserfolg der neuen Strukturen geben.
Auf Ebene der Behördenleiter wurde eine Koordinierungsrunde zur Steuerung des Modellprojektes und der wissenschaftlichen Begleitung gebildet.
Kosten
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Zum Einbau der Sicherheitseinrichtungen bei Polizei und Staatsanwaltschaft, wie Zugangstüren zu den Diensträumen, Waffen- und Verwahrraum, mussten im Jahr 1999 einmalig ca. 100.000 DM investiert werden.
Die monatlichen Mietkosten und sonstigen Aufwendungen, wie EDVAnschlüsse und Reinigung der Büros, werden von den jeweiligen Institutionen anteilig getragen.